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Gedanken eines Reisenden

Written by  31 May 2014
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Gedanken eines Reisenden


Wie immer in den ersten Tagen nach einer Rückkehr aus Afrika bin ich voller Energie und die Ideen überschlagen sich in meinem Schädel. In Mauretanien habe ich drei Wochen lang mit der Sängerin Malouma daran gearbeitet, die maurische Musik in westliche Notenschrift zu übertragen und die zu Grunde liegende Theorie zu erforschen. Danach verbrachte ich einige Tage in Dakar, um ein Klavier-Solo-Konzert zu geben. Zum Abschluss reiste ich nach Guinea. Dort habe ich seit vielen Jahren Freunde und habe wie immer mit einheimischen Musikern gespielt.

Diese Reisen sind privilegiert, denn sie bringen mich in sehr engen Kontakt mit der Bevölkerung des jeweiligen Landes. Ich lebe und rede dort mit vielen Schichten der Bevölkerung, mit hochrangigen Politikern, Botschaftern aller Länder, mit dortigen Musikern und deren Freunden und ihrem Bekanntenkreis. Ich bin mir dessen bewusst, dass es - zumindest für mich - eine Auszeichnung ist, die Kultur des Gastlandes so kennen lernen zu können. Mit vier Erwachsenen und zehn Kindern in einem kleinen Kastenwagen von Nouakchott ans Meer und den Strand fahren zu können ist für mich genauso schön, wie mit Lemrabot Ibn Meidah den Geheimnissen der maurischen Musik nachzuspüren.

Vieles ist faszinierend und interessant an einer fremden Kultur, besonders wenn man sie hautnah erleben darf. Oft verstellt eine derartige Nähe und die Freundlichkeit und Gastfreundschaft der Bevölkerung den Blick auf die dahinterliegenden Probleme. Sicher, jeder Besucher bemerkt als erstes die Armut in Afrika, die in Westeuropa nichts vergleichbares hat. Auch weiß man, dass im Allgemeinen in Afrika die politische Kaste, um es milde auszudrücken, nicht sonderlich vertrauenswürdig ist. In den westlichen Medien kommt Afrika nur als der Kontinent vor, in dem jedes Kleinkind eine Kalaschnikow trägt. Aber es gelingt den Menschen in Westafrika, ihre schwierige politische und soziale Umgebung mit bewunderungswürdiger Stärke zu ertragen. Überall dort, wo Gleichheit und Freiheit, zwei der drei Ideale der französischen Revolution, unter Druck geraten, da ist die Brüderlichkeit stark.

Dies soll keine Romantisierung der in West-Afrika wie überall auf dem Kontinent vorkommenden politischen Unterdrückung und der religiösen Spaltung und den daraus folgenden Grausamkeiten sein. Immer noch sind überall die Spuren der Kolonisation zu sehen, die nahtlos überzugehen scheinen in die Verletzungen, die den Ländern und ihren Bewohnern gleichsam traditionell durch Ausbeuter aus dem Ausland zugefügt werden. Übrigens steht den gewohnheitsmäßigen Profiteuren aus der westlichen Welt inzwischen starke Konkurrenz aus China ins Haus, welche äußerst geschickt sich - wenn es denn möglich ist - noch rücksichtsloser von den Küsten ins afrikanische Binnenland frisst, als es selbst deren leidgeplagte Bewohner für möglich gehalten hätten. Ein Blick auf das normale Leben der Afrikaner ist nur möglich, wenn man selbst dorthin fährt und feststellt, dass es auch nicht anders ist als zuhause in seiner Abfolge der Gewohnheiten und in Freud' und Leid hinter all dem Unbekannten und Ungewohnten.

Das äußerst heikle Thema der verschiedenen Religionen durfte ich in Mauretanien mit vielen Freunden und Bekannten diskutieren. Der dortige Islam ist nicht fanatisch und so gut wie jeder dort vor Ort verurteilt die falsche Auslegung dieser Religion zum Beispiel in Saudi-Arabien oder durch terroristische Gruppierungen wie die Boko Haram. Diesen Unterschied hat man mir in Deutschland nicht so gut erklärt, und ich wünschte mir, dass der muslimische Teil meiner Gesellschaft hier genauso stark und überzeugend sich öffentlich für den richtigen Islam und gegen den falschen einsetzte, wie es die Einwohner von Mauretanien tun. Trotzdem ist zum Beispiel Alkohol streng verboten und es gibt in der Hauptstadt keinen einzigen Club oder Diskothek. So ist es natürlich eine Herausforderung an meine Gesprächspartner, auf die Frage an welchen Gott ich denn glaube, zu antworten, dass ich an alles glaube, an Blumen, Bäume, Menschen, an mein Klavier. Dennoch habe ich bis jetzt auf diese Antwort noch keine negative Reaktion erfahren. Sie wird, vielleicht ungläubig und verwundert, akzeptiert. Dabei muss ich aber betonen, dass ich in solchen Situationen kein richtiger Fremder mehr bin, sondern als Freund eines Freundes sozusagen in der erweiterten Familie gesehen werde. Auch auf offener Straße oder in Taxis habe ich über solche Themen gesprochen, und war naturgemäß vorsichtiger. Einmal habe ich mich mit einer jungen Frau über ihre Stellung in der Gesellschaft Mauretaniens unterhalten und war tief beeindruckt über die Diskrepanz zwischen ihren eigenen Einstellungen. Auf der einen Seite gab mir diese strahlende und intelligente junge Frau aus der typischen Klasse zwischen Mittelschicht und Armut in Mauretanien einen erschütternden Einblick in die Problematik ihres Daseins als schwarze Einwohnerin in einer archaischen Gesellschaft, in der die Farbe der Haut und das Geschlecht Stellung und Macht dokumentieren. Sie gab mir zu verstehen, dass ihre Unzufriedenheit, als Frau in einer von Männern extrem dominierten Gesellschaft zu leben, von vielen ihrer Freundinnen geteilt würde. Auf der anderen Seite wagte ich es dann, sie auf die für mich nicht nachzuvollziehende Vorstellung, dass der Koran von Allah persönlich geschrieben sei, anzusprechen. Die Argumentation drehte sich schnell im Kreis, es war ihr unmöglich, darüber zu sprechen, und ich habe endgültig begriffen, dass alle Religionen, auch die ehemals meine, mit den Methoden der Gehirnwäsche arbeiten.

Das Erste, was mir immer wieder auffällt, wenn ich aus Asien oder Afrika nach Europa zurückkomme, sind die überall in der Öffentlichkeit auf Handys und Tablets gerichteten Blicke der Menschen. Vor einigen Tagen las ich in der Zeitung, dass inzwischen mehr als ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland alleine lebt. Umgeben von einer immer größeren Anzahl von elektronischen Instrumenten spielt sich das tägliche Leben mehr und mehr im Digitalen ab. Die tatsächliche Veralleinung des einzelnen wird konterkariert durch die Versprechungen der Industrie, die jedem einzelnen einen größeren Freundeskreis verheißen, als der es sich hätte träumen können. Natürlich wird jegliche Kritik an der Elektronik und ihren Segnungen als Retro und reaktionär betrachtet; der standardmäßige Vorwurf lautet dann Kulturpessimismus. Aber natürlich gilt hier, wie bei allem, dass man eben alles sehr genau betrachten muss, Segnung und Problem wie bei allem durch die Dosis bestimmt werden. Niemand leugnet den Vorteil einer mobilen Kommunikation. Trotzdem verführen diese Instrumente den Menschen, sich seiner Umgebung nicht bewusst zu sein und innerhalb einer Menge allein zu sein. Die Digitalisierung, die in der elektronischen Welt stattfindet, nimmt in unseren Köpfen ihren Anfang.

Die Tendenz dieser Haltung in der westlichen Zivilisation geht in die Richtung der totalen Vereinsamung. Dieser Umstand ist für mich eine der größten Bedrohungen unserer Zeit. Die prominenten Vertreter, die Kraken und Führer des völlig hemmungslosen Raubtierkapitalismus, der unsere Jetztzeit prägt, sind diesem Mechanismus genauso unterworfen, wie der bettelarme Slumbewohner, der nach einem Statussymbol giert. Paradoxerweise leiden die, die sich als Verführer und Profiteure aufspielen, als erste unter den Auswirkungen ihrer reflektionslosen Strategie des Weiter, Höher, Schneller. Wie kann es in einem begrenzten Raum endloses Wachstum geben? Ein jeder weiß, dass ein übervolles Glas überläuft. Trotzdem kann ein Wahlkampf nur gewonnen werden, wenn der Politiker physikalisch unmögliches wie unbegrenztes Wachstum verspricht. Eine Stärke des unterentwickelten Afrika liegt paradoxerweise im noch weitgehenden Fehlen dieses digitalen Fangnetzes. In Guinea-Bissau gibt es sehr oft keinen Strom. Die Menschen dort sitzen abends nicht vor dem Fernseher, sondern auf der Straße vor den Häusern und kommunizieren miteinander. So weit entfremdet bin ich selbst von diesem normalen Miteinander, dass es mir auffällt und ich dieses hier niederschreiben muss.

Das grundlegende Problem in der Richtung unseres derzeitigen Lebens in Westeuropa sehe ich in der Entspiritualisierung. Was nützt es mir, wenn ich alleine in meinem bequemen Polsterstuhl sitze, umgeben von allen möglichen elektronischen Helferlein, wenn ich kein menschliches Gesicht sehe, keine menschliche Hand verspüre, die mich berührt? Die tiefe Verwurzelung in einer archaischen Gesellschaft, so ungerecht und grausam diese sein mag, hat dennoch als positiven Aspekt das spirituelle Dasein. Es schmerzt mich, zu sehen, wie in Afrika junge Menschen vor dem Fernseher sitzen, und hungrig die hohlen Versprechungen der mehrwertorientierten Industrie aufsaugen. Ihnen wird suggeriert, sich anzustrengen und zu arbeiten für Konsumgüter, die ihnen die dümmsten Inhalte bieten, die man sich denken kann und sie gleichzeitig weiter in Richtung Dummheit und Herdenverhalten lenken. Klar, wird man sagen, europäische Hybris, der, der alles hat, kann es sich leisten, so zu reden. Aber ich kann guten Gewissens meinen afrikanischen Freunden nicht zustimmen, die sich auf den gleichen Weg begeben, den wir hier in Europa beschreiten. Was ist ein Facebook-Freund? Tröstet er mich, wenn ich leide? Teilt er meine ausgelassene Freude, wenn ich auf dem Rasen tanze? Isst und trinkt er mit mir zusammen an einem lauen Sommerabend? Und wird er bei mir sein in der Stunde meines Todes?

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